Dienstag, 20. März 2012

Video 14 veröffentlicht: Medizin im Gulag


Video: http://www.1917-1991.org/m/video-interviews/medicina/






 Drehbuch zum Video: Medizin im Gulag



Semjon Wilenski - 1948 verhaftet, war in Lagern an der Kolyma. Wladimir Kantowski wurde zweimal festgenommen. Er war in Lagern des Wjatlag und Workuta. Jelena Markowa wurde 1943 verhaftet, sie verbrachte ihre Haftzeit im Lager an der Workuta. Ioanna Murejkene wurde 1945 verhaftet, sie verbrachte ihre Haftzeit in Norilsk und nahm dort an einem Lageraufstand teil. Antonas Nawajtis ist Unterleutnant der Luftstreitkräfte, er wurde 1941 verhaftet und war in Lagern in Norilsk. Simonas Narbutas – 1945 verhaftet, war in Lagern in Komi. Susanna Petschuro wurde 1951 im Alter von 17 Jahren verhaftet. Sie verbrachte ihre Haftstrafe in Lagern bei Inta und Abes sowie im Zentralgefängnis Wladimir. Michail Tamarin wurde zweimal verhaftet, war in Lagern an der Kolyma und in der Verbannung in der Region Krasnojarsk. Juri Fidelgolz wurde 1948 verhaftet und verbrachte seine Haftzeit in Tayschet und an der Kolyma. Alexander Zezulesku wurde 1945 als Kriegsgefangener festgenommen, er war in Lagern in Komi und arbeitete als Lagerarzt.
 

Alexander Zezulesku
Wir hatten im Lager drei Ärzte. Ich war in der Ärztekommission. Unsere Aufgabe bestand darin, den Blutdruck der Insassen zu messen und zu überprüfen, wie die Pobacken der Insassen aussahen. Wenn man die Pobacken hochhob und diese wie ein leerer Sack zusammenfielen, dann musste der Häftling für einen Monat von den Arbeiten im Bergwerk befreit werden.

Video 13 veröffentlicht: Rosa Schowkrinskaja erinnert sich - Möge die Erinnerung an Tausende solcher Schicksale wie meines wach bleiben

(Übersetzung folgt) 

Video 12 veröffentlicht: Der Tod von Stalin

Video: http://www.1917-1991.org/m/video-interviews/stalins-tod/?lang=ru

(Übersetzung folgt)

Video 11 veröffentlicht: David Budjonny und Wjatscheslaw Rudnitzki erinnern sich - Die Akte Kommunistische Jugendpartei - KPM

 Video: http://www.1917-1991.org/m/video-interviews/budenny-rudnitzki/

Dawid Alexandrowitsch Budjonny (1930-2010) war Mitglied der illegalen Jugendorganisation KPM (Kommunistische Jugendpartei). Er wurde verhaftet und zu 5 Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt, die er in Dscheskasgan (Kasachstan) verbrachte. Rehabilitiert.






Wjatscheslaw Mitrofanowitsch Rudnizki wurde 1930 geboren. Mit 17 Jahren trat er der Kommunistischen Jugendpartei bei und leitete die Sonderabteilung. Er wurde verhaftet und zu 10 Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt, die er in Dscheskasgan (Kasachstan) verbrachte. Er wurde rehabilitiert und lebt in Woronesch.


Drehbuch zum Video: Dawid Budjonny und Wjatscheslaw Rudnizki erinnern sich: Die Akte Kommunistische Jugendpartei – KPM


Die Gründung der KPM


Budjonny: Das war noch in der Schule, 1945, also in meiner Jugend oder etwas später, da kam eine Unzufriedenheit auf, die zur Überzeugung führte, dass mit unserer Realität etwas nicht stimmte.
Ich begriff, dass das nicht nur Unzulänglichkeiten, die Bürokratie einiger Angestellter oder Einzelfälle waren, sondern dass das System schuld daran war. Das kommunistische Regime, das nach meiner festen Überzeugung Utopie und Verbrechen ist.

Rudnizki: Das wichtigste war die Ideologie. Ich glaube nicht, dass ich klug oder dumm oder alt bin, aber mit meinen 17 Jahren meinte ich damals, dass es für Stalin an der Zeit war abzutreten.

Montag, 19. März 2012

Video 10 veröffentlicht: Aleksei Nikolajewitsch Prjadilow erinnert sich: “Meine Mutter erklärte mir, dass man für solche Sachen verhaftet werden kann.”

Video: http://www.1917-1991.org/m/video-interviews/priadilov/


Aleksei Nikolajewitsch Prjadilow wurde 1927 geboren. 
Als er 16 Jahre alt war, wurde er zusammen mit seinen Schulkameraden wegen der Herausgabe einer handgeschriebenen satirischen Zeitschrift „Nalim“ verhaftet. 
Prjadilow verbrachte 13 Jahre lang in Lagern und in der Verbannung.

Drehbuch zum Video: Aleksei Nikolajewitsch Prjadilow erinnert sich: “Meine Mutter erklärte mir, dass man für solche Sachen verhaftet werden kann.” 


Die handgeschriebene satirische Kinderzeitschrift “Nalim“ und ihre Autoren


Also, nach dem Kriegsanfang im Jahre 1941 wurden wir Kinder nach Pawlowo evakuiert, ich war damals 13 Jahre alt. Als ich in die achte Klasse ging, lernte ich die Kinder kennen, die die handgeschriebene Zeitschrift „Nalim“ herausgebracht hatten. Ich ging in die achte Klasse, sie in die neunte. Sie hießen Jura Chramow und Sewa Gorschkow. Die Geschichte dieser Zeitschrift begann 1940. Am Anfang schrieben die Jungs eine Zeitschrift, die gesellschaftliche und politische Themen im Großen und Ganzen umging. Da war noch alles in Ordnung.

Video 9 veröffentlicht: Die “Kinder der Volksfeinde”


Kinder von „Volksfeinden”

Erinnerungen von Leonid Murawnik, Jelisaweta Riwtschun, Walentina Tichanowa, Olga Zybulskaja und Rosa Schowkrinskaja.

Verhaftung des Vaters – Verhaftung der Mutter – Kinderheim – Der Glaube an kommunistische Ideale – Diskriminierung – Psychische Folgen der Repressionen – Erinnerung an die Eltern  


Drehbuch zum Video: Kinder von „Volksfeinden”

Verhaftung des Vaters

Leonid Murawnik ist Sohn eines Parteifunktionärs. Seine Eltern wurden im Jahre
1937 erschossen. Seit dem Alter von 9 Jahren lebte er in unterschiedlichen
Kinderheimen, floh mehrmals und war obdachlos.
Murawnik: Wir wohnten in einem Zimmer in einem Hotel. Papa kam erst nach
Mitternacht von der Arbeit, müde und total erschöpft. Ich hörte oft die endlosen
Streitgespräche zwischen den Eltern. Mama fragte: „Jascha, hast du gehört, Larin ist
verhaftet worden“. Und Papa darauf. „Ja“.
„Hast du gehört, Orlow ist verhaftet worden“.
Papa darauf. „Ja“.
„Und was hältst Du davon?“
„Die Partei wird alles in Ordnung bringen.“
Auf alles gab es immer diese eine Antwort. „Die Partei wird das in Ordnung bringen.“
Er war ein fanatischer Mensch, ganz fanatisch.
Aber was hätte er ihr anderes sagen sollen? Nichts. Und dann kam dieser
verhängnisvolle Tag – der 25. Mai -, an dem das Büro des regionalen Parteikomitees
tagte und an dem alle, bis auf den letzten, verhaftet wurden. Das war eine minutiös
durchgeplante Aktion, so frevelhaft es auch klingt.

Walentina Tichanowa – Adoptivtochter des Volkskommissars der RSFSR für Justiz.
Ihr Stiefvater und ihre Mutter wurden erschossen. Walentina lebte 4 Jahre in einem
Kinderheim in Dnepropetrowsk.
Tichanowa: Es war der 11. September. In der Nacht wurde ich durch Lärm geweckt,
es waren unklare Geräusche zu hören. Ich ging im Morgenrock vom Kinderzimmer
durch den Korridor zur Tür des Arbeitszimmers. Da brannte Licht. Unsere
Hausangestellte stand in der Tür, und im Zimmer waren zwei Personen in Zivil. Einer
hielt den Telefonhörer und sagte. „Ja, wir sind fertig, es ist alles erledigt. Ja, gut.“
Und er legte auf. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie sie weggingen, nur noch
daran, wie ich in der Tür stand, und dass ich unwillkürlich anfing zu weinen.

Elisaweta Riwtschun ist die Tochter des Komponisten David Geigner. 1935 kam die
Familie aus China zurück. 1938 wurde David Geigner erschossen.
Riwtschun: Das war die letzte Nacht mit Papa. Als alle gegangen waren, saßen wir
bis zum Morgengrauen da, wir waren völlig erstarrt. Am Morgen ging ich dann mit
meinem Bruder zur Schule, und Mama klapperte die Gefängnisse ab auf der Suche
nach Papa. Sie fand ihn einige Tage später in den Listen des Butyrka-Gefängnisses.
Zwei Monate brachte sie Pakete und Geld für ihn dorthin, dann sagte man ihr, man
habe ihn weggebracht, er sei nicht mehr in den Listen. Und damit verlor sich seine
Spur.

„Unsere Bekannten hatten Angst vor uns“

Riwtschun: Wir waren einfach völlig isoliert. Es kamen keine Anrufe mehr, und
niemand kam uns besuchen. Unsere Bekannten hatten Angst vor uns. Sie fürchteten
ja selbst um ihr Leben. Das habe ich erst später begriffen, damals empfand ich nur
die Kränkung und den Horror, dass wir ganz allein waren. Mama fand keine Arbeit.
Wenn ich zum Direktor gerufen wurde, dachte ich immer, er wird jetzt sagen: „Dein
Vater ist ein Volksfeind, Du darfst nicht mehr in die Schule gehen.“ Davor hatte ich
Angst.

Rosa Jussupowna Schowkrinskaja. Ihr Vater war Mitglied im Regionalkomitee der
Partei in Dagestan und starb in Haft. Ihre Schwester wurde zu 10 Jahren
Lagerarbeiten verurteilt.
Schowkrinskaja: Als Mama uns ins Dorf (im Kaukasus) gebracht hatte und wir am
ersten Tag nach draußen gingen – ich weiß nicht, wer den Kindern das beigebracht
hat, sie konnten ja kein Russisch – da ließen sie uns nirgends durch. Sie schrien:
„Trooootzkisten! Troootzkisten!“ Woher kannten sie dieses Wort? Wir kamen heulend
nach Hause und sagten: „Mama, wir gehen nicht mehr raus, und wir gehen auch
nicht mehr in diese Schule“.

Murawnik: Als ich damals zu Tante Olja gekommen war, sagte sie nachts zu Onkel
Kostja, ihrem Mann: „Wir müssen diesen Gast wieder loswerden. Gnade Gott, die
Tschekisten kriegen das mit, und sie verhaften unsere Jungen“. Und mir sagte sie
am nächsten Morgen: „Lenja, frühstücke und geh dann zur Oma“. Ich folgte ihr und
ging nach dem Frühstück zur Oma, Bertha Moissejewna. Sie fragte: „Was machst du
hier?“ Ich antwortete: „Tante Olja sagte, ich soll zu dir kommen.“
Aber die Oma freute sich nicht über mein Kommen. Ich fragte sie „Oma, was ist los?
Warum ist das alles so?“ Sie sagte „Weil Du abgestempelt bist.“ „Wieso?“ „Wenn
dein Onkel erfährt, dass du gekommen bist, wird er sehr böse sein.“

Verhaftung der Mutter

Murawnik: Und hier auf dieser Bank am Petrowski-Boulevard sahen wir, meine
Mutter und ich, uns das letzte Mal. Sie weinte und sagte: „Lenik, mein Kind, ich weiß
nicht, ob ich wieder komme oder nicht, ich will dir nichts vormachen. Aber ich will,
dass Du ein guter Mensch wirst und dass du mit schweren Situationen fertig wirst.
Niemand wird dir in diesem Leben helfen… Lerne, deinen Eltern zu glauben, dann
wirst du es leichter haben im Leben.“ Wir gingen zur Oma, ich war völlig erledigt und
fertig, ich ging ins Bett und schlief ein. Als ich aufwachte, war Mama schon nicht
mehr da.

Riwtschun: Mama lag im Bett, sie hatte 38 Grad Fieber, sie war erkältet. Sie kamen.
Mama sagte, sie sei krank. „Aber wir halten Sie ja nicht lange auf. Ihr Mann hat zu
vieles vergessen, Sie müssen uns helfen.“ Sie sagte, sie habe Fieber. „Wir bringen
Sie wieder zurück“. Sie stand auf, zog einen Morgenrock und warme Hausschuhe
an. In diesem Aufzug ging sie mit hinaus. Unten stand das Auto. Danach hat sie
niemand mehr gesehen. Später kam heraus, dass sie erschossen worden war.

Kinderheim

Tichanowa: Als ich dahin kam, saß da ein Onkel Mischa in Militäruniform am Tisch.
Er fragte mich etwas, daran kann ich mich nicht genau erinnern. Er sagte mir: „Ja, ihr
werdet bei uns bleiben.“ Aber ich erinnere mich, dass ich innerlich zusammenzuckte,
dass ich Angst hatte. Er sagte: „Wir schicken euch in ein Kinderheim.“

Murawnik: Und eines Tages weckte man uns – etwa 15 Kinder - in der Nacht auf.
Wir traten an, man verfrachtete uns in ein Auto mit der Aufschrift „Lebensmittel“. Sie
stießen uns in dieses Auto, und es ging zu einem Bahnhof, ich weiß nicht mehr,
welcher das war, wahrscheinlich der Kiewer. Als sie uns zum Bahnhof fuhren, fragte
ein Mädchen. „Wohin bringen sie uns jetzt? Uns umbringen?“ Die verängstigte
Stimme von diesem Mädchen kann ich nicht vergessen.

Der Glaube an kommunistische Ideale

Riwtschun: Ich wollte unbedingt in den Komsomol, unbedingt. Ich war ja schon bald
erwachsen. Die ganze Klasse ging zu den Versammlungen, es gab Diskussionen
und Gespräche, nur ich war nicht dabei. Es hieß immer: „Was stellst du überhaupt
einen Antrag? Wer soll dich aufnehmen? Dein Vater ist ein Volksfeind. Was soll das,
willst du dich lächerlich machen?“ Und ich stellte natürlich keinen Antrag. Und dabei
wollte ich so gerne Komsomolzin sein! Ich wollte gerne bei den anderen sein! Das
war für mich sehr schwer.

Olga Zybulskaja. Ihre Eltern waren Mikrobiologen. Der Vater wurde 1937
erschossen. Die Mutter wurde als „Familienmitglied eines Verräters der Heimat“ zu 8
Jahren Haft verurteilt. Olga wuchs bei Ihren Verwandten auf.
Zybulskaja: Wissen Sie, ich habe das seinerzeit nicht so mit Stalin in Verbindung
gebracht. Ich habe fest an ihn geglaubt. Ich war gerade fertig mit der Schule, als er
im März 1953 starb. Irina, meine Schwester, hat furchtbar geheult, sie fiel dauernd in
Ohnmacht. Ihr Mann, Wladimir Aleksejewitsch, sagte ihr: „Ira, was stellst Du dich an?
Da ist ein Blutsauger gestorben, der dir das ganze Leben kaputt gemacht hat, er hat
das deines Vaters vernichtet und das deiner Mutter zerstört.“ Sie darauf: „Wolodja,
hör auf, so was konnte Stalin gar nicht tun, niemals“. Man glaubte so fest an ihn,
dass es für uns jetzt so war, als wäre plötzlich die Sonne verschwunden. Ich erinnere
mich, dass ich wer weiß wie geheult habe. Für mich war Stalin einfach eine Ikone.

Diskriminierung

Zybulskaja: Ich sagte, ich wollte Medizin studieren, Mama darauf: „Versuch das gar
nicht erst, man wird dich eh nicht zulassen, Kinder von Verhafteten dürfen nicht
Medizin studieren“. Ich bewarb mich und gab an, wer meine Eltern waren. Der Rektor
kam zu mir und sagte: „Wir nehmen dich nicht auf. Du brauchst es gar nicht erst zu
versuchen – wir haben die geheime Anweisung, Kinder verhafteter Eltern nicht
zuzulassen, sie werden sonst dem Staat schaden. Also nimm deine Dokumente
wieder mit und versuche es gar nicht erst.“

Murawnik: Später schon, als ich irgendwo anfing zu arbeiten, musste ich was
schreiben - früher haben wir ja Lebensläufe geschrieben. Ich dachte mir so eine
Geschichte aus, keine besonders gute, aber eben irgendwas. Alle aus den
Kinderheimen haben ja die Unwahrheit geschrieben. Und ich schrieb, mein Vater sei
im Bürgerkrieg ums Leben gekommen, er hatte ja wirklich im Bürgerkrieg gekämpft.
Ich schrieb auch, ich und meine Mutter hätten uns verloren, wo das war, wüsste ich
nicht mehr. Ich war damals noch klein. Das habe ich geschrieben, und es reichte
aus, sie ließen mich dann in Ruhe.

Psychische Folgen der Repressionen

Zybulskaja: Wahrscheinlich wäre ich sonst fröhlicher, ich bin manchmal ziemlich
skeptisch und pessimistisch. Ich habe im Leben nicht diese ganze Zärtlichkeit und
Fürsorge erfahren, ich musste mich immer irgendwie mit meiner Arbeit
durchschlagen. Außerdem – da Mama zu uns nicht zärtlich war, bin ich das auch
nicht meiner Tochter gegenüber. Ich bin nicht zärtlich zu ihr, ich kann das nicht
ändern - ich gebe mir Mühe, ich unterstütze sie auch, aber irgendetwas im Inneren
hält mich zurück.

Tichanowa: Natürlich hat das Kinderheim meine geistige und intellektuelle
Entwicklung erheblich beeinträchtigt, die ganzen vier Jahre, die ich da verbrachte.
Das war eine solche Vergewaltigung unserer Seelen, dass es sich natürlich auf
unser weiteres Leben auswirkte. Es ist kein Zufall, dass ich von dem Kinderheim
vielleicht fünf-sechs Leute nennen kann, denen es irgendwie gelungen ist, eine
höhere Bildung zu bekommen.
Irgendwo im Verborgenen eine Angst, eine gewisse Angst war immer in mir. Ich bin
nämlich ein explosiver Charakter – ich bin nicht so sanftmütig. Aber diese ganzen
Jahre habe ich mich sehr still verhalten. Sehr still. Das hat lange Jahre in mir
gesessen. Vielleicht habe ich das bis heute nicht ganz überwunden.

Erinnerung an die Eltern

Riwtschun: Es war, als wäre Papa vom Erdboden verschwunden, absolut – als
Mensch und als öffentliche Person.
Als er am Morgen nicht nach Hause kam, also nach dieser Nacht – ich habe mit 13
Jahren noch nicht verstanden, was eine Verhaftung ist, dass Papa verhaftet war. Ich
wusste nur so viel, dass im Gefängnis Verbrecher, Diebe und Mörder sitzen. Und
jetzt auf einmal mein Vater – ein so wertvoller, guter und völlig unschuldiger Mensch
– das war natürlich ein Irrtum. Als ich aus der Schule kam, habe ich sofort
nachgesehen, ob nicht oben seine Mütze und sein Mantel an der Garderobe hingen.

Tichanowa: Also zu diesem intellektuellen und seelischen Zusammenbruch. Ein
wesentliches Trauma entstand natürlich durch das Kinderheim. Und natürlich hatten
alle viel Heimweh. Ich habe buchstäblich jedes Mal, wenn ich aus der Schule kam,
gedacht: „Wenn ich jetzt komme, steht ein Auto da, und Mama und Papa kommen
mich holen“.
Ich war ganz sicher, dass sie unschuldig waren. Darum kam ich nicht auf die Idee,
mich zu fragen, wem gegenüber sie schuldig sein sollten – sie waren einfach
unschuldig und fertig. Da war ich mir sicher. In einer Eingabe schrieb ich, dass ein
Beweis für die Unschuld meiner Eltern schon darin zu sehen war, wie sie mich
erzogen hatten.

Schowkrinskaja: Sie haben alle Ehefrauen verhaftet und alle bedrängt, sich von
ihrem Familiennamen loszusagen. Papa hat Mama ein paarmal geschrieben: „Wenn
Du den Familiennamen änderst, wird das für die Kinder ein Schlag sein. Sie werden
denken, dass ich wirklich ein Verräter, ein Volksfeind bin. Sag den Kindern, dass ich
immer aufrichtig, dass ich ein aufrechter Kommunist bin und niemanden verraten
habe.“ Wie oft haben sie Mama vorgeladen und ihr immer wieder zugeredet: „Geben
Sie den Familiennamen auf. Wir werden den Kindern eine Ausbildung verschaffen.“

Riwtschun: Wissen Sie, ich hatte das ganze Leben den Traum, bis 1956, ob ich
denn nicht doch eines Tages würde beweisen können, dass mein Vater völlig
unschuldig war. Ich war ganz besessen von dieser Idee. Und das Schicksal ist mir
zur Hilfe gekommen. Die Staatsorgane haben das ohne mich in Ordnung gebracht.
Verstehen Sie? Und jetzt nach 70 Jahren sind Sie gekommen, um nach ihm zu
fragen. Für mich ist das einfach ein Glück. Dass er sozusagen aus dem Nichtsein
auftaucht, wenigstens für eine Zeitlang.

Die Zitate sind aus folgenden Interviews entnommen:
Leonid Murawnik
Jelisaweta Riwtschun
Olga Zybulskaja
Walentina Tichanowa
Rosa Schowkrinskaja

Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL - Moskau)

Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL - Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Boris Kazanskiy (MEMORIAL - Bonn)

© MEMORIAL International 2011