Nationale Geschichtsbilder - Das 20. Jahrhundert und der „Krieg der Erinnerungen“
Ein Aufruf von MEMORIAL
Das 20. Jahrhundert hat in der Erinnerung praktisch aller Völker Ost- und Mitteleuropas tiefe und kaum verheilende Wunden hinterlassen - durch Revolutionen, Umstürze, zwei Weltkriege, die nationalsozialistische Unterwerfung Europas und die dem menschlichen Geist unfassbare Katastrophe des Holocaust. Hinzu kommen eine Vielzahl lokaler Kriege und Konflikte mit deutlich nationaler Einfärbung, im Baltikum, in Polen, in der Westukraine, auf dem Balkan. Und es gab einen Reigen unterschiedlich ausgerichteter Diktaturen, die alle der Bevölkerung ohne Umschweife die bürgerlichen und politischen Freiheiten nahmen und ein unifiziertes, für jedermann verbindliches Wertesystem aufzwangen. In wechselnder Abfolge haben die Völker eine überwiegend ethnisch begründete und verstandene nationale Unabhängigkeit gewonnen, verloren und dann wiedererlangt – und stets fühlte sich dabei die eine oder andere Gemeinschaft beleidigt und erniedrigt.
Dies ist unsere gemeinsame Geschichte - doch jedes Volk empfindet sie und erinnert sich an sie auf seine Art. Nationale Erinnerung verarbeitet die gemeinsame Erfahrung auf jeweils eigene Weise, verleiht ihr einen eigenen Sinn. So hat jedes Volk sein eigenes 20. Jahrhundert.
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Ein „kollektives Geschichtsbild“ ist natürlich eine konventionale und abstrakte Kategorie. Doch manifestiert sich diese Abstraktion in durchaus konkreter Weise – in der öffentlichen politischen und moralischen Bewertung historischer Ereignisse, im Kulturleben, in Bildungsinhalten, in staatlicher Politik, in den interethnischen und internationalen Beziehungen.