Aleksei Nikolajewitsch Prjadilow wurde 1927 geboren.
Als
er 16 Jahre alt war, wurde er zusammen mit seinen Schulkameraden wegen der
Herausgabe einer handgeschriebenen satirischen Zeitschrift „Nalim“ verhaftet.
Prjadilow verbrachte 13 Jahre lang in Lagern und in der Verbannung.
Drehbuch zum Video: Aleksei Nikolajewitsch Prjadilow erinnert sich: “Meine Mutter erklärte mir, dass man für solche Sachen verhaftet werden kann.”
Die
handgeschriebene satirische Kinderzeitschrift “Nalim“ und ihre Autoren
Also, nach dem Kriegsanfang im Jahre 1941 wurden wir
Kinder nach Pawlowo evakuiert, ich war damals 13 Jahre alt. Als ich in die
achte Klasse ging, lernte ich die Kinder kennen, die die handgeschriebene
Zeitschrift „Nalim“ herausgebracht hatten. Ich ging in die achte Klasse, sie in
die neunte. Sie hießen Jura Chramow und Sewa Gorschkow. Die Geschichte dieser
Zeitschrift begann 1940. Am Anfang schrieben die Jungs eine Zeitschrift, die
gesellschaftliche und politische Themen im Großen und Ganzen umging. Da war
noch alles in Ordnung.
Ich habe mich an der Veröffentlichung der sechsten
Ausgabe beteiligt – sie hat sich später als die kriminellste herausgestellt.
Eigentlich habe ich die Jungs irgendwann Ende 1942 oder Anfang 1943
kennengelernt. Diese sechste Ausgabe haben wir im April 1943 veröffentlicht.
Ich beendete die achte Klasse und fuhr nach Moskau.
Bevor ich Sewa kennenlernte, hatte ich Gedichte
geschrieben und eine eigene Zeitschrift herausgegeben, die „Soroka“ heiß. Das
war eine humoristische Zeitschrift, also insgesamt völlig harmlos. Ich war
damals 13 oder 14 Jahre alt. So. Und mit dem Älterwerden kommen einem neue
Gedanken, vor allem kritische Gedanken.
Irgendwo haben wir von Erwachsenen gehört, dass man dies
oder jenes nicht sagen darf. Man darf nicht sagen, dass Iossif Wissarionowitsch
ein Tyrann ist, denn dann landet man im Gefängnis. Und so weiter. Wir haben
diese kritischen Gespräche der Erwachsenen also mitgekriegt.
Das ist ein Gedicht von mir. Ich habe es geschrieben,
nachdem die sechste Ausgabe der Zeitschrift herausgegeben worden war.
„Auf der See und
auf der Erde schuftet jeder wie ein Ochse.
Man redet
möglichst leise,
wütend auf sich
selbst und die Regierung.
Das Volk arbeitet
ohne Freude und schont weder die Hände noch den Rücken,
Glücklich sind
nur die Lumpen und der allmächtige Georgier.“
Wir waren natürlich alle 15- bis 16-jährige Extremisten.
Wir waren ohne Zweifel draufgängerisch und hatten vor nichts und niemandem
Angst. Außerdem sagten wir „Wir sind doch minderjährig! Sie können uns gar
nicht ins Gefängnis stecken.“
Als ich nach Moskau kam und meiner Mutter alles erzählte,
war sie natürlich entsetzt. Sie hatte sehr große Angst. Sie sagte, dass man für
solche Sachen ins Gefängnis kommen kann. Sie sagte mir „Vernichte alles, wofür
man dich einsperren könnte. Vernichte alle Texte, in denen von unserem Führer
und so weiter die Rede ist.“ [lacht] So. Einen Teil der Texte, unter anderem im
Tagebuch, habe ich ausgestrichen.
Verhaftung
und Ermittlung
Nachdem meine Mutter mir die möglichen Konsequenzen
erläutert hatte, habe ich in Moskau eine Gruppe gegründet, die eine neue
Zeitschrift unter dem Namen „Ideen und Realität“ herausgeben sollte. [lacht]
Aber ich habe es nicht geschafft, diese Zeitschrift herauszugeben, weil ich
verhaftet wurde.
Sewa Gorschkow hat einem Freund die Zeitschrift „Nalim“
geliehen, als dieser danach gefragt hat. Dann wurde Sewa Gorschkow am 1.
Dezember 1943 verhaftet. Am 21. Dezember wurde ich festgenommen. Am 24. oder
25. Dezember wurde in Gorkij Jura Chramow verhaftet. Ich kam direkt in die
Ljubjanka. Auch die Jungs aus Gorkij wurden nach Moskau überführt, wo sodann
die Ermittlung stattfand.
So. Das einzige was sie wissen wollten, ist wer uns Jungs
angeleitet hatte. Wer war das? Wer von den Erwachsenen, von den Lehrern und so
weiter hatte davon gewusst oder uns diese Gedanken eingeflößt? Diese Leute gab
es nicht und deswegen ließen sie uns in Ruhe.
Letztendlich wurde Sewa Gorschkow zu 10 Jahren Haft
verurteilt. Ich und Jura kriegten sieben Jahre und für drei Jahre wurden uns
die bürgerlichen Rechte aberkannt. Beim Prozess hat man sich lange gestritten,
ob man uns die bürgerlichen Rechte aberkennen darf. Der Verteidiger sagte: „Man
kann nicht jemandem eine Sache wegnehmen, wenn er diese Sache nicht hat“. Wir
waren minderjährig und hatten kein Wahlrecht.
A.P.: Ich habe sehr wohl verstanden, wofür ich verhaftet
wurde, denn meine Mutter sagte mir, dass man für solche Sachen bestraft werden
kann. Ich habe es verstanden und habe mein Arrest nicht als ungerecht
wahrgenommen.
A.K.: Also glaubten Sie, dass Ihr Arrest berechtigt war?
A.P.: Ja, ich glaubte, dass ich mich gegen das Regime
aufgelehnt hatte und dafür verhaftet wurde. Welche andere Staatsmacht hätte
einen für solche Sachen nicht verhaftet oder bestraft?
13
Jahre in Lagern und im Exil
Region
Altai und Kolyma
Das war im Prinzip das schlimmste Lager, das ich je
gesehen habe. Das schrecklichste Lager. Es gab dort drei große Hallen. In jeder
Halle waren um die 500 Menschen untergebracht. Es gab dreistöckige Betten aus
nacktem Holz. Wir schliefen also Körper an Körper auf diesen Betten. Die
Ernährung war unregelmäßig. Das heißt, an einem Tag hatte man zum Beispiel Brot
bekommen, am nächsten Tag gab es keines. An einem Tag gab man uns heißes Essen
und am nächsten Tag nicht. In diesem Lager sahen die Leute dem sicheren Tod
entgegen. Wir konnten uns nicht waschen, es gab keine Waschbecken. Diese Menge
von Läusen kann man sich schwer ausmalen, das war eine riesige Menge. Es gab
keine medizinische Versorgung. Das war im Grunde das einzige Lager, in dem ich
Leichen gesehen habe. Die Menschen starben an Dystrophie, Unterernährung oder
wegen scheußlicher Ernährung. Man starb wegen der Läuse, wegen des Drecks und
wegen alles anderen. Ich habe schon darüber geschrieben, dass es keine
Toiletten gab. Wir wurden aus der Baracke herausgelassen und die Latrine
verlief direkt an der Baracke entlang. Nebenan war die Frauenbaracke. So saßen
sich Männer und Frauen gegenüber. Ich sage doch, etwas Schlimmeres kann man
sich kaum vorstellen. Die Sterberate war sehr hoch, ich habe Leichen gesehen.
Das war im Winter. Du wachst auf und unter deinen Füßen liegt eine nackte
Leiche. Die Kriminellen in der Baracke haben den Gestorbenen gleich ausgezogen.
Die Kriminellen lebten dort also ganz gut, sie haben sich
gut ernährt und haben getrunken. Nebenan war die Frauenbaracke, von den Frauen
gehörten einige den Kriminellen. So. Etwa nach zwei Monaten im Lager hat man
angefangen dort etwas Ordnung zu schaffen.
Irgendwann Ende Mai oder im Juni fing man an, die
Gefangenen von dort wegzuschicken, denn sie waren schon friedhofsreif. Die
Insassen wurden nun in das landwirtschaftliche Gesundungslager Tschistjunskij
gebracht.
Dieses Lager war sauber und sehr gepflegt. Es gab keine
Pritschen mehr, sondern vierer Hochbetten. Es gab sogar Bettzeug wie Matratzen,
Kissen und Bettlaken. Außerdem gab es im Lager eine Badestube und natürlich
einen Karzer. In der Mitte des Geländes gab es [lacht] so etwas wie einen
kleinen Park mit Sitzbänken. Nach alldem, was ich in Wjasma, in Schelkowo und
in Bijsk gesehen habe, kam es mir hier also vor wie in einer Oase.
Der Lagerleiter war ein Frontkämpfer, der – so sagte man
– wegen irgendeines Vergehens vom Major zum Kapitän degradiert und dann zum
Lagerleiter wurde. Er fand, dass niemand im Karzer sitzen sollte. Jeder muss
arbeiten. Und so blieb der Karzer leer. So. Außerdem sagte er: “Ein hungriger
Mensch kann nicht normal arbeiten. Deswegen muss man die Leute ordentlich
füttern.”
Aus diesem Lager haben sie mich dann doch nach Kolyma
geschickt. Mit dem Dampfschiff „Alexander Newskij“. Einige Monate habe ich dort
im Bergwerk gearbeitet. Das war mein siebtes und gleichzeitig letztes Jahr in
Haft. Der stellvertretende Lagerleiter rief mich zu sich. Er sagte: “Ich habe
deine Akte gelesen, du hast eine harte Strafe erhalten. Ich finde, dass man
Kinder erziehen und nicht im Gefängnis einsperren soll.”
Ich wurde an Stalins Geburtstag freigelassen. Das möchte
ich unterstreichen. Ich wurde an Stalins Geburtstag, den 21. Dezember, freigelassen.
Das hört sich doch gut an? Ja. Und warum kam ich an Stalins Geburtstag frei?
[lacht] Weil ich auch an Stalins Geburtstag eingesperrt wurde. Das kann man
also unterschiedlich ausdrücken. Entweder: „Ich wurde an Stalins Geburtstag
eingesperrt“ oder „man hat mich an Stalins Geburtstag freigelassen“.
Danach wurde ich in die Verbannung geschickt bis eine
Sonderanordnung über meine Befreiung kam. Als ich aus dem Lager kam, wurde ich
vom ganzen Dorf empfangen. Die freiwilligen Arbeiter haben einen Zwangsarbeiter
empfangen. [lacht] Ich war der erste, der aus diesem Lager befreit wurde.
Als ich aus Kolyma zurückkam und mich in der Hochschule
einschrieb, war ich schon 30 Jahre alt. 30 Jahre alt.
Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL - Moskau)
Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)
Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL - Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)
Übersetzung/Untertitelung:
Boris
Kazanskiy (MEMORIAL - Bonn)
© MEMORIAL International 2011
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