Samstag, 11. Juni 2011

Video 2 veröffentlicht: Jelena Markowa erinnert sich: "Zwangsarbeiterin"

Video: http://www.1917-1991.org/m/video-interviews/jelena-markowa/


Jelena Markowa wurde 1923 in Kiew geboren. Die Eltern wurden verfolgt und der Vater 1937 erschossen.

Von 1941 bis 1943 hielt sie sich im besetzten Gebiet Donezk auf. Nach der Befreiung des Gebiets durch die Rote Armee , wurde sie vom NKWD verhaftet und zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. 10 Jahre war sie im Lager von Workuta inhaftiert. Später wurde sie rehabilitiert.
Jelena Markowa ist Doktor der Technischen Wissenschaften.

Drehbuch zum Video:
Jelena Markowa erinnert sich: „Zwangsarbeiterin“

Zur Vernichtung jener Generation kann ich erzählen, dass mein Vater Lehrer war, politisch verfolgt und während des Großen Terrors 1937 erschossen wurde. Meine Mutter wurde 1938 verhaftet.

Man schlug mir vor, für die Wandzeitung einen Artikel zu schreiben, in dem ich meine Eltern tadeln und mich als Patriotin darstellen sollte. Aber ich habe das nicht gemacht.


Beginn des 2. Weltkriegs – Leben unter der Besatzung


Der Krieg begann und mein Traum von der Universität war zunichte. Obwohl ich die Tochter eines politisch Verfolgten war, verstand ich damals noch nicht, dass man mich vielleicht an der Universität nicht aufnehmen würde.

Der Donbass wurde kampflos aufgegeben. Bei uns verlief die Front. Als die Deutschen vorrückten und unsere Truppen zurückwichen, verstanden wir nicht einmal, was vor sich ging.

Nicht alle Juden konnten evakuiert werden, weil nicht genügend Mittel vorhanden waren. Man ging zu Fuß. Gute Freunde, eine jüdische Familie. Ich kannte sie seit meiner Kindheit, sie waren mit meinen Eltern eng befreundet. Es waren zwei Schwestern…Ärztinnen.

Sie luden etwas auf und gingen los, mit einem oder zwei Pferden. Kurz darauf erfuhren sie, dass die Deutschen schon da waren und sie kehrten um. Und als sie zurückkehrten und die Deutschen kamen, baten sie mich, bei ihnen zu wohnen, um die Tür zu öffnen, falls die Deutschen zu ihnen kämen. Sie dachten eben, dass bei einem russischen Mädchen die Deutschen gleich wieder weggingen. Niemand begriff, wie die Lage wirklich war. So lebte ich einige Zeit bei ihnen. Später wurden sie natürlich dennoch fortgebracht und starben.

Das war am 11. Februar. Dort, wo wir lebten, wurde die Front durchbrochen. Das war im Donbass, in der Stadt Krasnoarmejsk.

Ich lief hinaus auf die Leninstraße, wo die Verwundeten auf der Straße lagen. Es gab keinen Sanitätsdienst, keine Krankenschwestern. Die Menschen verloren Blut, schrien, aber niemand rettete sie.

Ich begann, die Verwundeten in unsere Städtische Poliklinik zu tragen, die sich einige Straßen weiter auf der Swerdlowstraße befand. Mir kam gleich die Idee, dass dort eine medizinische Einrichtung war, die Leute gerettet und dorthin geschleppt werden müssten.

Ich gab ihnen dort zu trinken, legte Verbände an und beruhigte sie ein wenig. Das war dann diese Gruppe Verwundeter in dem leeren Gebäude der Poliklinik, wo ich ihnen versuchte zu helfen. Erst einige Stunden später kam der Sanitätsdienst.

Die Front war durchbrochen und die Stadt wurde weiterhin umkämpft. Ein Teil der Stadt war von Landungstruppen besetzt und der andere Teil von den Deutschen. Und plötzlich rief jemand in unser Fenster: „Die deutschen Panzer rollen!“. „Tiger“ wurden sie genannt.

Was nun? Es gab leicht Verwundete, die sich allein bewegten, und andere waren schwer verwundet. So kam mir der Gedanke – da der Haupteingang bewacht wurde – nachts durch den Hintereingang die leicht Verwundeten fliehen zu lassen, um sich bei Bekannten in der Bevölkerung zu verstecken.

Damals gab es keine Pässe sondern Ausweise. Das waren Bescheinigungen, die das Arbeitsamt ausstellte, so eine Art Wohnortnachweis.

Ende März begann ich beim Arbeitsamt  zu arbeiten. Und im August war der Ort endgültig von den Deutschen befreit. Ich hatte also nur kurz dort gearbeitet. Aber in dieser Zeit konnte ich tatsächlich diese Ausweise beschaffen, obwohl das lebensgefährlich war. Und alle, die wir versteckt hielten, konnten gerettet werden.


Ende der Besatzung. Erste Verhaftung.

Die Besatzung war zu Ende, unsere Truppen rückten ein. Wäre ich ein bisschen klüger und berechnender gewesen, hätte ich diesen unvernünftigen Schritt nicht getan. Aber was habe ich denn getan?

Die Bevölkerung ehemals besetzter Gebiete hatte kein Recht auf Freizügigkeit, nachdem unsere Truppen dieses Gebiet zurückerobert hatten. Denn nun begannen die Überprüfungen nach Volksfeinden, Vaterlandsverrätern und Überläufern. Man durfte keinen Schritt tun, und erst recht nicht in eine andere Stadt fahren. Und plötzlich begebe ich mich selbst in die Höhle des Löwen und bitte um Erlaubnis zu reisen, um an der Universität zu studieren. Natürlich habe ich keine Erlaubnis erhalten.

Und so fand ich mich im Keller der Mühle  wieder, in der Frauenabteilung. Und nebenan war ein riesiger unterirdischer Raum, in dem sich die Männer befanden. Voll war es sehr und eng. Es gab kein Wasser, kein Essen, gar nichts. Und niemand verstand etwas, es war wie in der Hölle, was sollte werden? Die Luft war stickig. So war es im Keller.

Die Verhältnisse waren völlig unhygienische. Ich bekam eine Wundrose am Bein. Es war so dreckig, dass die Ruhr ausbrach und Gott weiß, was noch. Und ich hatte die Wundrose.


Zweite Verhaftung und Ermittlungsverfahren.


Ich kehrte nach Hause zurück um mich gesund zu pflegen. Dennoch glaubte ich, dass ein Fehler vorlag, dass ich unschuldig war, Menschenleben gerettet hatte und dass ich zur Universität fahren musste.

Selbst mir erscheint das unwahrscheinlich. Wie konnte ich denn gar nichts begreifen und nur, weil ich studieren wollte, ein zweites Mal dorthin zurückkehren, nachdem man mich bereits einmal verhaftet hatte? Ich ging zum zweiten Mal hin.

Aber es kam noch schlimmer, man warf mich in ein Loch.

Kurz gesagt, weil ich auf dem Arbeitsamt als Dolmetscherin gearbeitet hatte, was ich auch immer wieder selbst bestätigte, wurde ich zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.


Auf dem Weg ins Lager / Gefangenentransport.


So sah unsere Lage aus: Der Krieg war noch im Gange. Die Losung: „Jagd die Faschisten!“ rief in der Bevölkerung die entsprechende Reaktion hervor. „Hier kommen die Faschisten! Die haben den Deutschen geholfen!“, und so weiter und so fort.

Das erste Mal kam ich in Kotlas in Berührung mit der Gaunerwelt. Sie trieben uns voran. Endlich kamen wir in Kotlas an. Ein majestätischer Fluss, eine schöne Weite auf der einen Seite und am anderen Ufer standen schwarze Baracken, schwarze Baracken, schwarze Baracken. Das war das Zwischenlager, der Eingang zur Hölle. Wir gingen zur Baracke, wo unser Gefangenentransport untergebracht werden sollte. Als wir die Baracke betreten, sehen wir blutrote Wände. Zuerst begriffen wir nicht, was das für eine Farbe war. Dann stellte sich heraus, dass dort lauter Wanzen waren, die diese einheitliche, blutrote Farbe bildeten. Ratten liefen am helllichten Tag herum.

Wir flohen aus dieser Baracke und setzten uns mit unseren Habseligkeiten auf die Erde neben der Baracke. Wir dachten, mit diesen Wanzen und Ratten könnte man doch nicht zusammenleben. Während wir mit unseren Habseligkeiten auf dem Gras saßen, beobachteten wir, wie sich eine Meute näherte, keine Menschen, sondern Kreaturen. Sie sprachen kein Russisch, sondern Ganovensprache. Da kamen die Kriminellen. Während meines ganzen Lagerlebens verkörperte diese Ganovensprache für mich eben dieses Verbrecherpack.

Diese Verbrecher nehmen uns auf höchst zynische Art und Weise alles weg. Wir sind schockiert, begreifen nicht, wer diese Leute sind. Sie raubten uns bis auf den letzten Faden aus.


Das Lager. Die Arbeit im Schacht



Weckruf. Wir stehen 4 Stunden vor Arbeitsbeginn auf. Man beginnt aus abzuzählen, danach erhalten wir zu essen, danach werden wir zum Verlassen der Lagerzone vorbereitet. Wir stehen am Lagerausgang, wo wir erneut abgezählt werden. Wir werden nicht nur abgezählt, sondern auch durchsucht. Aber was bedeutet das bei mehreren Hundert Leuten? Sie beginnen uns abzuzählen, verzählen sich, beginnen erneut. Danach werden wir unter bewaffneter Bewachung mit Hunden, Gewehren und später mit Maschinengewehren zur Arbeit geführt.

Am Anfang war es schrecklich. Wanzen, kein Bettzeug im Zwangsarbeitslager, wir schlafen auf unseren eigenen Lumpen. Wir tragen wattierte Hosen, schmutzige Männerunterwäsche, ein Unterhemd, eine wattierte Jacke, eine Mütze mit Ohrenklappen und Schuhe, die aus einer Sohle aus Autoreifen und einer Plane bestanden. Den Zwangsarbeitern wurden in den ersten Jahren sämtliche persönliche Sachen abgenommen und in einem Lagerraum deponiert. Wir konnten uns also nicht umziehen. In anderen Lagern war das nicht so, nur in den Zwangsarbeitslagern. Wir gehen also so hinunter in den Schacht, dort werden wir nass, schmutzig, verdrecken und steigen aus dem Schacht wieder hinauf. Anfangs hatten wir keinen Waschraum, keine Dusche. Das war eine schreckliche Zeit, als wir uns nicht waschen konnten. Wir kehrten in die Baracke zurück und, so dreckig wie wir waren, legten wir uns in den nassen, schmutzigen Sachen ohne Bettzeug auf die nackten Pritschen.

Auf diese Weise starben täglich bis zu neun Menschen. Jeden Tag. Das kann man mal auf einen ganzen Monat hochrechnen.


Die Lage der Frau im Lager


Die Frage „Mann-Frau“ war für uns sehr qualvoll. Die jungen Frauen fanden sich sofort mit Begehrlichkeiten der männlichen Lagerleitung konfrontiert. Wer dem nicht nachkam, musste unten im Schacht arbeiten. Ich bin auf diese Weise sehr schnell unten im Schacht gelandet, aber dort wurde ich der Sanitätsabteilung zugewiesen. In meiner Lagerakte war vermerkt, dass ich im Feldlazarett gearbeitet hatte. So geriet ich zum Sanitätsdienst. „Das Leben wurde angenehmer und fröhlicher!“ Später wurde ich wieder den körperlich schweren Schachtarbeiten zugewiesen.

Unaufhörlich kamen neue Gefangenentransporte, unter anderem auch Frauen. Und mit einem dieser Transporte kam auch eine junge Frau, ca. 18 Jahre alt. Wir waren schon 20, 22, 23 Jahre alt, und sie war noch ganz jung und sehr schön.

Am Anfang waren wir alle bezaubert: Was für eine schöne junge Frau! Und natürlich nicht nur wir, sondern auch die Männer. Doch sie konnten sich nicht einigen, wem sie gehören sollte, und so musste sie auch hinunter in den Schacht. Und was glauben Sie? Sie musste auch die Förderwagen für den Kohletransport bedienen und hatte gleich am ersten Tag einen Unfall, bei dem ihre beiden Beine überfahren und abgeschnitten wurden.

 
Erschießungen im Lager


Wir kehren ins Lager zurück. Man führt uns zur Baracke, wo wir untergebracht werden sollen. Im Lager ist es totenstill, keine Menschen. Wir nähern uns der Baracke und sehen, dass die Wände mit Blut beschmiert sind. Geschosse und Blut, sogar Gehirnmasse, Teile menschlichen Gewebes. Was ist das? Wir betreten die Baracke, dort ist alles voller Blut! Wie sich herausstellte, war das vorher ein Männerlager.

Man sagte uns, dass dort vorher Soldaten, vielleicht sogar Wlassow-Anhänger oder andere Armeeangehörige waren, die eine Flucht planten und streikten. Sie hatten die Wachen entwaffnet und das Lager verlassen. Eine Flucht aus Workuta war unmöglich. Man ging in den sicheren Tod und sie wurden erschossen. Aus Hubschraubern wurde dort, auf dem freien Feld, auf sie geschossen. Danach trieb man sie in die Baracken. Und dort, direkt in oder bei den Baracken wurden die Leute erschossen. Über den Ablauf kann ich nur das berichten, was wir erfuhren. Aber dass an den Wänden der Baracken Einschussspuren waren, dass dort Blut und Gehirnmasse war, das ist wahr. Stellen Sie sich vor, wie wir uns fühlten. Wir wurden gezwungen, die Baracken zu reinigen und anschließen wohnten wir in dieser Baracke.


Befreiung und Heirat


Ich wurde vor Fristablauf entlassen, im November, Ende November 1953. Ich dachte mir also, arbeiten, aber als was? Aber das wichtigste war, in Freiheit zu gelangen. Später würde sich der Rest schon finden. Das wichtigste war, dem zu entkommen. Entkommen! Und ich bin entkommen. Und dann erwartete mich das:

Ich konnte wirklich nirgendwo hin. November, Polarnacht, ein Schneesturm kommt auf, Frost. Ich habe Gummistiefel an. Stellen Sie sich das vor: hinter dem Polarkreis, Frost. Und wo sollte ich hin?

Ich komme zu dieser Familie, die in einem winzigen, überfüllten Zimmer lebte. Vater und Mutter lebten dort nach ihrer Entlassung, ihr Kind, das im Lager aufgewachsen war und noch irgendwelche Freunde ihrer entlassenen Freunde, die auch nicht wussten, wohin mit sich.

Er lud meine Habseligkeiten auf einen Schlitten, fuhr los und ich ging mit ihm. Er führt mich zu einer Baracke, wo er tatsächlich ein Zimmer bewohnte. Auf dem Tisch steht eine Wodkaflasche und dann waren dort auch „Freunde“, die offensichtlich Kriminelle waren.

Ich floh aus diesem Zimmer auf eine leere Straße. Ein Schneesturm kam auf und die Stadt war mir fremd. Aber ich rannte, ich rannte fort von diesem Schrecken. Meine Sachen blieben dort.

Unklar war, wie mir geholfen werden sollte. Wohin mit mir, wo übernachten, wo wohnen? Ich hatte noch einen Zettel vom Musiktheater in Workuta.

Ich wurde Ljoscha Markow vorgestellt. Er hatte vor kurzem ein Zimmer zugewiesen bekommen, das er allein bewohnte. Das Zimmer war eher eine Art Abteil. Also, es gab dort ein Sofa, einen kleinen Tisch, das war alles. Ich habe ihm meine Geschichte erzählt und er sagte: „Was tun? Sie können bei mir wohnen, und ich wohne in der Zeit im Theater, wo ich übernachten kann.“

So begegnete ich meinem zukünftigen Ehemann. Da er äußerst gütig war und ich erkannte, was er für ein Mensch war, wurde er später mein Ehemann.


Rückkehr nach Moskau


Es gab viele Probleme. In der Personalabteilung füllte ich die Formulare aus und anfangs nahmen sie mich, und ich sagte ihnen, dass ich rehabilitiert worden war. Die Besonderheit war, dass ich nach Artikel 58 verurteilt worden war. Als ich das sagte, antwortete man mir: „Und mit dieser Biographie wollen Sie eine Anstellung in einem wissenschaftlichen Institut?“ Kurz gesagt, ich musste sofort das Weite suchen.

So begann mein Moskauer Leben. Noch in Workuta begann ich ein Fernstudium an einem polytechnischen Institut. 1960 wurde ich rehabilitiert, beendete das Fernstudium am polytechnischen Institut und erhielt meinen Ingenieurstitel.

Später habe ich meine Doktorarbeit verteidigt und arbeitete lange Zeit an der Akademie der Wissenschaften.

Ich beschäftigte mich mit neuen Problemen und der Kybernetik. Aber das war schon ein völlig anderes Leben.



Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL - Moskau)

Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL - Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Irina Raschendörfer (MEMORIAL - Berlin)


© MEMORIAL International 2011

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