Montag, 19. März 2012

Video 10 veröffentlicht: Aleksei Nikolajewitsch Prjadilow erinnert sich: “Meine Mutter erklärte mir, dass man für solche Sachen verhaftet werden kann.”

Video: http://www.1917-1991.org/m/video-interviews/priadilov/


Aleksei Nikolajewitsch Prjadilow wurde 1927 geboren. 
Als er 16 Jahre alt war, wurde er zusammen mit seinen Schulkameraden wegen der Herausgabe einer handgeschriebenen satirischen Zeitschrift „Nalim“ verhaftet. 
Prjadilow verbrachte 13 Jahre lang in Lagern und in der Verbannung.

Drehbuch zum Video: Aleksei Nikolajewitsch Prjadilow erinnert sich: “Meine Mutter erklärte mir, dass man für solche Sachen verhaftet werden kann.” 


Die handgeschriebene satirische Kinderzeitschrift “Nalim“ und ihre Autoren


Also, nach dem Kriegsanfang im Jahre 1941 wurden wir Kinder nach Pawlowo evakuiert, ich war damals 13 Jahre alt. Als ich in die achte Klasse ging, lernte ich die Kinder kennen, die die handgeschriebene Zeitschrift „Nalim“ herausgebracht hatten. Ich ging in die achte Klasse, sie in die neunte. Sie hießen Jura Chramow und Sewa Gorschkow. Die Geschichte dieser Zeitschrift begann 1940. Am Anfang schrieben die Jungs eine Zeitschrift, die gesellschaftliche und politische Themen im Großen und Ganzen umging. Da war noch alles in Ordnung.

Ich habe mich an der Veröffentlichung der sechsten Ausgabe beteiligt – sie hat sich später als die kriminellste herausgestellt. Eigentlich habe ich die Jungs irgendwann Ende 1942 oder Anfang 1943 kennengelernt. Diese sechste Ausgabe haben wir im April 1943 veröffentlicht. Ich beendete die achte Klasse und fuhr nach Moskau.

Bevor ich Sewa kennenlernte, hatte ich Gedichte geschrieben und eine eigene Zeitschrift herausgegeben, die „Soroka“ heiß. Das war eine humoristische Zeitschrift, also insgesamt völlig harmlos. Ich war damals 13 oder 14 Jahre alt. So. Und mit dem Älterwerden kommen einem neue Gedanken, vor allem kritische Gedanken.

Irgendwo haben wir von Erwachsenen gehört, dass man dies oder jenes nicht sagen darf. Man darf nicht sagen, dass Iossif Wissarionowitsch ein Tyrann ist, denn dann landet man im Gefängnis. Und so weiter. Wir haben diese kritischen Gespräche der Erwachsenen also mitgekriegt.

Das ist ein Gedicht von mir. Ich habe es geschrieben, nachdem die sechste Ausgabe der Zeitschrift herausgegeben worden war.

„Auf der See und auf der Erde schuftet jeder wie ein Ochse.
Man redet möglichst leise,
wütend auf sich selbst und die Regierung.
Das Volk arbeitet ohne Freude und schont weder die Hände noch den Rücken,
Glücklich sind nur die Lumpen und der allmächtige Georgier.“

Wir waren natürlich alle 15- bis 16-jährige Extremisten. Wir waren ohne Zweifel draufgängerisch und hatten vor nichts und niemandem Angst. Außerdem sagten wir „Wir sind doch minderjährig! Sie können uns gar nicht ins Gefängnis stecken.“

Als ich nach Moskau kam und meiner Mutter alles erzählte, war sie natürlich entsetzt. Sie hatte sehr große Angst. Sie sagte, dass man für solche Sachen ins Gefängnis kommen kann. Sie sagte mir „Vernichte alles, wofür man dich einsperren könnte. Vernichte alle Texte, in denen von unserem Führer und so weiter die Rede ist.“ [lacht] So. Einen Teil der Texte, unter anderem im Tagebuch, habe ich ausgestrichen.


Verhaftung und Ermittlung


Nachdem meine Mutter mir die möglichen Konsequenzen erläutert hatte, habe ich in Moskau eine Gruppe gegründet, die eine neue Zeitschrift unter dem Namen „Ideen und Realität“ herausgeben sollte. [lacht] Aber ich habe es nicht geschafft, diese Zeitschrift herauszugeben, weil ich verhaftet wurde.

Sewa Gorschkow hat einem Freund die Zeitschrift „Nalim“ geliehen, als dieser danach gefragt hat. Dann wurde Sewa Gorschkow am 1. Dezember 1943 verhaftet. Am 21. Dezember wurde ich festgenommen. Am 24. oder 25. Dezember wurde in Gorkij Jura Chramow verhaftet. Ich kam direkt in die Ljubjanka. Auch die Jungs aus Gorkij wurden nach Moskau überführt, wo sodann die Ermittlung stattfand.

So. Das einzige was sie wissen wollten, ist wer uns Jungs angeleitet hatte. Wer war das? Wer von den Erwachsenen, von den Lehrern und so weiter hatte davon gewusst oder uns diese Gedanken eingeflößt? Diese Leute gab es nicht und deswegen ließen sie uns in Ruhe.

Letztendlich wurde Sewa Gorschkow zu 10 Jahren Haft verurteilt. Ich und Jura kriegten sieben Jahre und für drei Jahre wurden uns die bürgerlichen Rechte aberkannt. Beim Prozess hat man sich lange gestritten, ob man uns die bürgerlichen Rechte aberkennen darf. Der Verteidiger sagte: „Man kann nicht jemandem eine Sache wegnehmen, wenn er diese Sache nicht hat“. Wir waren minderjährig und hatten kein Wahlrecht.

A.P.: Ich habe sehr wohl verstanden, wofür ich verhaftet wurde, denn meine Mutter sagte mir, dass man für solche Sachen bestraft werden kann. Ich habe es verstanden und habe mein Arrest nicht als ungerecht wahrgenommen.
A.K.: Also glaubten Sie, dass Ihr Arrest berechtigt war?
A.P.: Ja, ich glaubte, dass ich mich gegen das Regime aufgelehnt hatte und dafür verhaftet wurde. Welche andere Staatsmacht hätte einen für solche Sachen nicht verhaftet oder bestraft?

13 Jahre in Lagern und im Exil
Region Altai und Kolyma


Das war im Prinzip das schlimmste Lager, das ich je gesehen habe. Das schrecklichste Lager. Es gab dort drei große Hallen. In jeder Halle waren um die 500 Menschen untergebracht. Es gab dreistöckige Betten aus nacktem Holz. Wir schliefen also Körper an Körper auf diesen Betten. Die Ernährung war unregelmäßig. Das heißt, an einem Tag hatte man zum Beispiel Brot bekommen, am nächsten Tag gab es keines. An einem Tag gab man uns heißes Essen und am nächsten Tag nicht. In diesem Lager sahen die Leute dem sicheren Tod entgegen. Wir konnten uns nicht waschen, es gab keine Waschbecken. Diese Menge von Läusen kann man sich schwer ausmalen, das war eine riesige Menge. Es gab keine medizinische Versorgung. Das war im Grunde das einzige Lager, in dem ich Leichen gesehen habe. Die Menschen starben an Dystrophie, Unterernährung oder wegen scheußlicher Ernährung. Man starb wegen der Läuse, wegen des Drecks und wegen alles anderen. Ich habe schon darüber geschrieben, dass es keine Toiletten gab. Wir wurden aus der Baracke herausgelassen und die Latrine verlief direkt an der Baracke entlang. Nebenan war die Frauenbaracke. So saßen sich Männer und Frauen gegenüber. Ich sage doch, etwas Schlimmeres kann man sich kaum vorstellen. Die Sterberate war sehr hoch, ich habe Leichen gesehen. Das war im Winter. Du wachst auf und unter deinen Füßen liegt eine nackte Leiche. Die Kriminellen in der Baracke haben den Gestorbenen gleich ausgezogen.

Die Kriminellen lebten dort also ganz gut, sie haben sich gut ernährt und haben getrunken. Nebenan war die Frauenbaracke, von den Frauen gehörten einige den Kriminellen. So. Etwa nach zwei Monaten im Lager hat man angefangen dort etwas Ordnung zu schaffen.

Irgendwann Ende Mai oder im Juni fing man an, die Gefangenen von dort wegzuschicken, denn sie waren schon friedhofsreif. Die Insassen wurden nun in das landwirtschaftliche Gesundungslager Tschistjunskij gebracht.

Dieses Lager war sauber und sehr gepflegt. Es gab keine Pritschen mehr, sondern vierer Hochbetten. Es gab sogar Bettzeug wie Matratzen, Kissen und Bettlaken. Außerdem gab es im Lager eine Badestube und natürlich einen Karzer. In der Mitte des Geländes gab es [lacht] so etwas wie einen kleinen Park mit Sitzbänken. Nach alldem, was ich in Wjasma, in Schelkowo und in Bijsk gesehen habe, kam es mir hier also vor wie in einer Oase.

Der Lagerleiter war ein Frontkämpfer, der – so sagte man – wegen irgendeines Vergehens vom Major zum Kapitän degradiert und dann zum Lagerleiter wurde. Er fand, dass niemand im Karzer sitzen sollte. Jeder muss arbeiten. Und so blieb der Karzer leer. So. Außerdem sagte er: “Ein hungriger Mensch kann nicht normal arbeiten. Deswegen muss man die Leute ordentlich füttern.”

Aus diesem Lager haben sie mich dann doch nach Kolyma geschickt. Mit dem Dampfschiff „Alexander Newskij“. Einige Monate habe ich dort im Bergwerk gearbeitet. Das war mein siebtes und gleichzeitig letztes Jahr in Haft. Der stellvertretende Lagerleiter rief mich zu sich. Er sagte: “Ich habe deine Akte gelesen, du hast eine harte Strafe erhalten. Ich finde, dass man Kinder erziehen und nicht im Gefängnis einsperren soll.”

Ich wurde an Stalins Geburtstag freigelassen. Das möchte ich unterstreichen. Ich wurde an Stalins Geburtstag, den 21. Dezember, freigelassen. Das hört sich doch gut an? Ja. Und warum kam ich an Stalins Geburtstag frei? [lacht] Weil ich auch an Stalins Geburtstag eingesperrt wurde. Das kann man also unterschiedlich ausdrücken. Entweder: „Ich wurde an Stalins Geburtstag eingesperrt“ oder „man hat mich an Stalins Geburtstag freigelassen“.

Danach wurde ich in die Verbannung geschickt bis eine Sonderanordnung über meine Befreiung kam. Als ich aus dem Lager kam, wurde ich vom ganzen Dorf empfangen. Die freiwilligen Arbeiter haben einen Zwangsarbeiter empfangen. [lacht] Ich war der erste, der aus diesem Lager befreit wurde.

Als ich aus Kolyma zurückkam und mich in der Hochschule einschrieb, war ich schon 30 Jahre alt. 30 Jahre alt.




Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL - Moskau)

Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)

Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL - Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)

Übersetzung/Untertitelung:
Boris Kazanskiy (MEMORIAL - Bonn)


© MEMORIAL International 2011

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