Donnerstag, 4. August 2011

Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums, über Destalinisierung in Russland

Wir sind nicht seine Brüder und Schwestern, und er ist uns kein Vater.

Forschungssensation: Die angebliche Liebe der Russen zu Stalin ist frei erfunden. Dieses Gefühl wird ihnen aufgedrängt.



Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zetrums, für Nowaja Gaseta

Die Arbeitsgruppe für historisches Gedenken des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten schlug im Februar 2011 Präsident Medwedjew das Programm „Über das Gedenken an die Opfer des totalitären Regimes und nationale Aussöhnung“ vor. Nachdem das Dokument zunächst auf der Website des Rates sowie der Gesellschaft „Memorial“ und später in der Zeitung „Rossiskaja Gaseta“ veröffentlicht wurde, erhielt es den inoffiziellen Titel „Entstalinisierungsprogramm“.

Die kritische Bewertung der eigenen Geschichte ist dabei notwendigerweise die Grundvoraussetzung für die Überwindung der totalitären Vergangenheit. Dieser schmerzhafte Prozess, der die eigene Geschichte einer rationalen Betrachtung unterzieht, wurde auch von Deutschland und Italien vollzogen, in deren Verfassungen ein klarer Bruch mit der totalitären Vergangenheit vollzogen wird. In anderen Ländern, z.B. Spanien, ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen.


Neben dem wirtschaftlichen Wohlstand und der Schaffung von modernen Institutionen ist die Selbstanalyse der Gesellschaft und das Herausarbeiten von Gründen und Faktoren, welche das totalitäre Regime gebaren, die wichtigste Voraussetzung für eine Entwicklung in diesen Ländern. Russland bildet hier keine Ausnahme. Über kurz oder lang muss sich auch unser Land dieser Aufgabe stellen.

Gleichzeitig ist klar, dass der Versuch einer Selbstanalyse stets auf heftigen Widerstand stößt. Schließlich bezieht sie sich nicht ausschließlich auf traumatische Erinnerungen oder das Entsetzen angesichts des moralischen Gesellschaftsverfalls, der dem Terror und den Massenverfolgungen nichts entgegenzusetzen vermochte. Sie berührt auch sehr konkrete politische Machtinteressen in ihrem Bemühen darum, Fragen der Gesellschaft zur Verantwortung der Führung des Landes für die von ihr begangenen Verbrechen zu unterbinden.

Deshalb verwundert es nicht, dass der von Menschenrechtlern und einigen Politikwissenschaftlern eingereichte Vorschlag den empörten Widerspruch sowohl bei den Ideologen der Regierungspartei „Einiges Russland“, als auch bei den Kommunisten und Nationalisten hervorrief. Im anlaufenden russischen Wahlkampf wird ein derartiges politisches Programm von den verschiedenen politischen Lagern als Grundlage für eine radikale Änderung der staatlichen Politik angesehen. Das Programm der Menschenrechtler betrachteten sie als Provokation, um „die Gesellschaft zu spalten und zu zerstören“, das ständige Mahnen daran, dass „ganz Russland ein riesiges Katyn“ ist, soll die Machteliten und die Regierungspartei „Einiges Russland“ spalten.

Wie der den Kommunisten nahestehende Historiker M. Lomakow schrieb, „berücksichtigte die stalinsche Führung die Mentalität des russischen Volkes, während die liberalen Kräfte wie ein Fremdkörper abgestoßen werden“. Die Modernisierungspolitik Medwedjews nannte er eine „Utopie“ und unterstrich, dass, „verglichen mit der Entwicklung der letzten 20 Jahre, war die Sowjetzeit – und insbesondere die Stalinära – wenn nicht eine ideale, so doch eine romantische Epoche, als auf der Arbeit und im Kampf Heldentaten vollbracht wurden. Und Josef Stalin steht symbolisch für diese Zeit.“ Wie viele andere Publizisten und Regierungspolitiker vermutet er, dass „die Liberalen Stalin deshalb vernichten wollen, weil sie verstehen, dass heute angesichts der Gefahr der völligen Unterwerfung vor dem Westen der Ruf nach einer Persönlichkeit ähnlich Stalin laut wird.“

Dieses Bedrohungsszenario vom Westen, der Russland die „Demokratie“ aufdrängt, um das Land in seine Rohstoffkolonie zu verwandeln, wird sowohl von Putin als auch der Kremlpropaganda gern heraufbeschworen. Vielen Einwohnern Russlands leuchten die Argumente ein, da diese ideologischen Klischees bereits zu Zeiten des Kalten Krieges bedient wurden und sich darin der Geist einer geschlossenen Gesellschaft manifestiert, die – wenngleich in abgeschwächter Form – bis heute existiert.

Die gesamte Putinsche Dekade ist geprägt von einer stillen und dennoch konsequenten Rehabilitierung Stalins, die somit der Rechtfertigung von staatlicher Willkür, massenhafter Verfolgung, politischer Einfallslosigkeit, Unsittlichkeit und Mittelmäßigkeit Vorschub leistet. Dabei geht es nicht um die historische Figur Stalins oder die wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussionen zu seiner Bedeutung für das totalitäre System in der Sowjetunion. Im heutigen Russland steht Stalin im Zentrum der politischen Mythologie und dient sowohl dem Regierungslager zur Legitimierung der Politik Putins, als auch der politischen Opposition (und zwar von beiden entgegengesetzten Lagern, den Kommunisten und Liberalen), um ihn zu kritisieren.

In letzter Zeit mischen sich auch „Soziologen“ in den Streit um die Entstalinisierung ein und führen an, dass das Volk dagegen ist und sich überhaupt nicht auf eine „künstliche“ Kampagne gegen Stalin einlassen möchte, da es ihn als Symbol unseres Sieges im 2. Weltkrieg und unserer Erfolge bei der Industrialisierung des Landes betrachtet. Umfragedaten und deren Auslegung werden massiv gefälscht.

Das Lewada-Zentrum hat schon mehrfach Forschungsergebnisse zum Thema „Stalin und der Krieg“, „Stalin und die Massenverfolgungen“ veröffentlicht. Diese zeigen ein komplett anderes Bild.

Ungeachtet aller Informationsdefizite, Zensur oder der Tatsache, dass die wissenschaftliche Elite sich bei diesen Fragen gern in Schweigen hüllt, hat sich im gesellschaftlichen Bewusstsein eine dezidierte Vorstellung von der Stalinära als einer Zeit grausamster Repressionen und Gewalt an der Bevölkerung bewahrt. 70 bis 72 Prozent aller in den Jahren 2007 und 2011 befragten Bürger Russlands bezeichnen die stalinistischen Repressionen als „politisches Verbrechen, welches durch nichts zu rechtfertigen ist“.

Bei einer anderen Fragestellung teilte sich die russische Meinung etwas anders auf, blieb aber im Kern unverändert.

Auf die Frage vom April 2011: „Wer hatte Ihrer Meinung nach unter den politischen Verfolgungen der Jahre 1937 bis 1938 zu leiden?“, antworteten lediglich 11% „jene, die offen oder versteckt gegen die Sowjetregierung waren“, weiter 8% befanden „die treuesten Anhänger der Sowjetmacht“, 23% antworteten mit „die fähigsten und angesehensten Persönlichkeiten“, doch die meisten Befragten sagten „alle, ohne Unterschied, aufgrund von staatlicher Willkür oder Denunziation“. Anders gesagt: Ein Großteil der Bevölkerung ist der Meinung, dass die Verbrechen der Sowjetmacht am gesamten Volk verübt wurden und nicht nur an einer bestimmten Gruppe.

Wichtig ist auch, dass das breite Bewusstsein zu den Opfern nicht nur jene aus den Jahren des Großen Terrors zählt, sondern die Repressionen weiter fasst und dazu auch die Kriegsgefangenen, die enteigneten Bauern, die Umgesiedelten und die Familienangehörigen von Repressierten zählt.

Deshalb stellt sich die Mehrheit der Bevölkerung Russland nicht die Frage, ob das „Entstalinisierungsprogramm“ notwendig ist oder nicht. Sämtliche Punkte dieses Programms werden von der russischen Gesellschaft als notwendig erachtet und das Programm selbst als längst überfällig.

P.S.: Das Denkmal von Ernst Neiswestni wartet schon drei Jahre…

Lew Gudkow
Direktor des Lewada-Zetrums
für Nowaja Gaseta
22.05.2011

Übersetzung aus dem Russischen: Irina Raschendörfer
Quelle: http://www.novayagazeta.ru/data/2011/054/20.html

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