Michail Tamarin wurde 1916 geboren.
Er ist Ingenieur und
Geiger.
Zweimal wurde er verhaftet. Er war er in den Lagern an der Kolyma und in
der Verbannung in der Region Krasnojarsk.
Drehbuch zum Video:
Michail Iosifowitsch Tamarin erinnert sich: Meine Lebensgeschichte habe ich niemandem erzählt
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Verhaftung
und Untersuchungshaft
Am 16. April 1937 wurde ich zur Adresse Kusnezki-Most 24
gebeten. Seit dem achten Semester war ich eng mit einigen Kommilitonen befreundet,
nämlich mit Sascha Bresizki und mit einem weiteren Freund namens Mischa. Wir
waren sehr gute Freunde. Wir verliebten uns in Mädchen und veranstalteten
zusammen Partys.
Eines Tages wurden mir und meinen Freunden ungeheure
Sachen vorgeworfen. Sie verhörten uns, sie sagten, dass wir konterrevolutionäre
Treffen veranstalteten und terroristische Aktionen gegen die Partei und die
Regierung planten. Das ganze kam so plötzlich, dass ich große Angst hatte.
Ich wurde in eine Einzelzelle gesteckt, wo ich nur die
Leute in den Nachbarzellen schreien hörte. Sonst war es dort totenstill. Dieser
Ort im Butyrka-Gefängnis hieß Pugatschewskaja-Turm, jetzt erinnere ich mich
daran. In derselben Nacht hörte ich die Schlüssel rasseln und die Tür wurde
geöffnet. Der Gefängnisdirektor und seine zwei oder drei Begleiter überreichten
mir die Anklageschrift. Darin stand: „Die Zentralverwaltung für
Staatssicherheit der UdSSR hat eine studentische konterrevolutionäre
terroristische bucharinsche Organisation aufgedeckt, deren Ziel es war,
Terroranschläge gegen die Führer der Partei und die Regierung zu verüben."
Das bedeutete die Verhaftung aller Angehörigen, Enteignung und Erschießung
binnen 24 Stunden. Das Gesetz, nach dem ich verurteilt wurde, war 1934 nach dem
Tod Kirows erlassen worden. Sie gingen weg und ließen mich die Anklageschrift
lesen. Ich las und mir wurde schlecht. Ich saß auf diesem Stahlbett auf einer
Heumatte und unter mir wurde es nass. Entschuldigen Sie diese Einzelheiten,
aber ich konnte meinen Körper nicht mehr kontrollieren. Mir wurde richtig übel.
Am frühen Morgen kam ich wieder zu Sinnen. Man sagte mir:
„Packen Sie Ihre Sachen.“ Ich erinnere mich, dass ich nur eine Zahnbürste dabei
hatte, sonst nichts, wir gingen nach unten. Sie steckten mich völlig nackt in
eine Nische im Korridor und durchsuchten mich. Dann durfte ich mich wieder
anziehen und sie steckten, sie steckten mich in ein spezielles Auto, in dem
Käfige drin waren. In so einem kleinen Käfig konnte man nur stehen oder sitzen.
Später habe ich erfahren, dass meine Kameraden auch in diesem Wagen transportiert
wurden. Sie brachten uns zum Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes, das
sich im Lefortowo-Gefängnis befand. Das ganze dauerte nicht lange. Ich sagte,
dass mein Gewissen vor dem Tod rein ist, weil ich unschuldig bin und alle
Anschuldigungen erfunden sind. Ich fragte „Ist das alles?“. „Ja, das ist
alles“, wurde mir geantwortet. Das Gericht zog sich zur Beratung zurück. Als
ich in den Korridor abgeführt wurde und über den Schuldvorwurf nachdachte,
bekam ich einen Schweißausbruch. Nach mehr als einer Stunde haben sie
entschieden, dass mein Fall zur Nachermittlung zurückgegeben wird.
Als ich in meine Gefängniszelle zurückgeführt wurde,
haben mich die Mithäftlinge gar nicht wiedererkannt, so benebelt und verstört
war ich. Ich konnte gar nicht sprechen. Ich lag drei oder vier Tage im
Gefängniskrankenhaus, bis ich zu mir kam.
Transport
nach Kolyma
Ich und andere Gefangene wurden nachts zu einem Güterzug,
einem Gefangenenzug, gebracht. Wir wurden von Soldaten mit Hunden bewacht. Wir
stiegen in einen Waggon und mussten warten, daran kann ich mich gut erinnern.
Auf einmal öffneten sich die Türen und verurteilte Kriminelle kamen hinein. Sie
warfen uns von unseren Liegeplätzen herunter, ja so ging es dort zu. Aber unter
uns Gefangenen gab es einen Oberst namens Posorich, der seines Dienstes
enthoben worden war und dessen militärische Abzeichen entfernt worden waren. Er
beherrschte sieben Sprachen und war ein sehr interessanter Gesprächspartner. Er
konnte viele Romane auswendig und erzählte sie uns, als würde er aus einem Buch
lesen. Das gefiel sogar den Kriminellen. Sie mochten die Romane so sehr, dass
sie uns auf unseren Plätzen schlafen ließen.
In Wladiwostok, wo wir ausgesetzt wurden, wurden wir zu
Fuß durch die Stadt zum Hafen geführt. Dort mussten wir in den Laderaum eines
Dampfschiffes steigen, ja es gab ein Dampfschiff. Ja, dieses Schiff namens Kulu
brachte uns dann nach Magadan, zur Bucht Nagajewo. Die Reise dauerte etwa drei
Tage, weil wir auf den japanischen Inseln anlegten. Dort haben sich die Wachen
in Zivil umgezogen und wir durften nicht ans Deck gehen. Wir saßen im eiskalten
Laderaum, die Schiffswände waren ja aus Stahl. Wir hatten Angst. In der Nacht
des 25. Dezember kamen wir in Magadan an. Wir trugen alle unsere leichte
Kleidung, obwohl draußen klirrender Frost war. Bis wir das Schiff verlassen
durften, waren viele Ohren, Füße, Finger und vor allem die Nasen erfroren. Es
war einfach schrecklich.
In derselben Nacht wurden wir geweckt, verstehen Sie? Es
war starker Schneesturm. Sie befahlen uns allen Schaufeln zu nehmen und die
Straßen zu räumen.
Kolyma.
Die Bersin-Mine 1938-1943.
So kam ich zur Bersin-Mine. So hieß diese Grube zunächst,
später wurde sie in Oberer At-Urjach umbenannt, weil Bersin verhaftet worden
war. In diesem Lager arbeitete ich fünf Jahre lang vorwiegend in der
Nachtschicht. Man musste sehr viel arbeiten. Die Schicht fing um fünf oder
sechs Uhr morgens an und ging bis zum nächsten Morgen. Die Wachen haben sich
abgewechselt, und wir blieben bis die Norm erfüllt war, bis dahin durfte
niemand die Mine verlassen. Als Werkzeug hatte man eine Hacke, eine Schaufel,
ein Brecheisen und einen Karren, das war's. Das Ladegut wurde im Karren
angeliefert, und ich musste es abnehmen. Im Frühling haben wir dort Gold
gefördert. Die goldführende Schicht befand sich immer im Tauwasser des
Permafrosts, deswegen standen wir beim Arbeiten im Wasser. Die Arbeitsnorm war
so hoch, dass wir dort immer lange blieben. Wenn wir um 5.30 Uhr geweckt
wurden, kamen wir erst gegen 20 Uhr zurück zum Abendessen. Auf dem Weg in die
Baracke mussten wir noch Brennholz sammeln. Davon gab es nicht viel, weil dort
im Permafrost-Gebiet nur Zwerg-Kiefern wachsen. Die Baracken waren aus
Sperrholz überdeckt mit einer Plane. In jeder lebten etwa 100 Menschen. Pro
Baracke gab es nur zwei Gusseisenöfen, jeder versuchte sich irgendwie zu
wärmen, die Wärme des Ofens irgendwie aufzunehmen. Es gab noch diese
zweistöckigen Hochbetten. Und was noch schrecklich war, neben den Baracken
wurde eine Art Pissoir errichtet, dort mussten wir barfuß hingehen. Unsere
Kleidung wurde uns ja nach der Arbeit zum Trocknen weggenommen. So lebten wir
dort.
A.K.: Sind viele Leute damals im Lager umgekommen?
M.T.: Ja, sehr viele, sehr viele. Jede Nacht. Bis zu 15
Menschen sind in einer Nacht gestorben. Ich wachte manchmal auf, und neben mir
lag ein Toter. Sehr viele starben dort. Wissen Sie, als der Krieg begann, wurde
es etwas besser.
A.K.: Hat man Ihnen mehr zu essen gegeben?
M.T.: Ja. Es kamen weniger neue Häftlinge dazu, deswegen
schonte man eher die alten.
Wir dachten im Lager nur an den Tod. Dass man lebend nach
Hause zurückkehrt, haben wir nicht für möglich gehalten. Gerade politische
Gefangene wurden unmenschlich behandelt. Die Kriminellen hatten es besser. Wir
waren dagegen zur Vernichtung verurteilt, so hat man es uns direkt gesagt.
Aus Kolyma zu fliehen ist natürlich ein großes Problem.
Es gab ja keinen Landweg dorthin, die Gegend war nur über das Meer erreichbar.
Das schrecklichste war, dass alle Bewohner in den umliegenden Dörfern bestochen
wurden. Sie wurden sogar ausgezeichnet, wenn sie halfen Ausbrecher
festzunehmen. Deswegen gelang die Flucht nur sehr wenigen. Die Ausbrecher sind
meistens vor Hunger gestorben.
Im
Lagerkrankenhaus
So arbeitete ich eine Zeit lang, bis mir eines Tages
schlecht wurde. Mir wurde schwindelig, ich stützte mich an einem Pfosten ab,
dann fiel ich zu Boden. Ich wurde in die Sanitätsbaracke gebracht. Dort kam der
Arzt herein, sein Name war Alexei Stepanowitsch Tokmakow. Er war auch ein
Häftling. Er stellte bei mir eine eitrige Blinddarmentzündung fest. Da es dort
kein Licht gab, ordnete er an, die Kerzen anzuzünden. So wurde ich bei
Kerzenlicht operiert. Nach der Operation wurde ich in ein Krankenzimmer gelegt.
Nach einigen Tagen im Krankenzimmer bekam ich Fieber und musste wieder auf den
Operationstisch. Die Wunde hatte sich entzündet. Nachts hatte ich hohes Fieber
und wurde in den Korridor rausgeschmissen. Sie sagten, ich wäre ein
hoffnungsloser Fall. So wurde ich einige Male aus dem Krankenzimmer geworfen.
Das Personal wunderte sich, dass mein Herz noch schlug.
Das
Konzert
Ich arbeitete wie üblich im Lager, und irgendjemand
erzählte irgendjemandem, dass ich Geige spiele. Das hat Boris Nikolski
mitgekriegt, der gut Gitarre spielte. Er fand mich und kam zu mir mit seiner
Gitarre. Wenn er spielte, sagte ich ihm, welche Noten er spielen soll. Ich
hatte ein absolutes musikalisches Gehör. Er sagte: „Wo kriegen wir denn eine
Geige her? Das nahm er sich vor. Und er hat tatsächlich irgendwo eine Geige
besorgt. Ich habe mir die Geige angeschaut. Die Saiten und die Stimmwirbel
waren etwas locker, doch der Bogen war halbwegs in Ordnung. Ich habe die Geige
gestimmt und fing an zu spielen. Ich habe gegen Boris eine Wette verloren. Es
ging um einen Walzer von Fritz Kreisler. Als sich herausstellte, dass es von
diesem Walzer drei Versionen gibt, sprang er vor Freude auf. Boris war kein
politischer Gefangener, er hat es erreicht, dass die Lagerleitung unsere
Auftritte erlaubte. So habe ich in meiner Lageruniform für die Häftlinge Geige
gespielt.
Befreiung
Im Jahre 1951 wurde ich in die Verbannung geschickt. Als
wir ankamen, hat ein Bevollmächtigter mir erklärt, dass ich zu lebenslanger
Verbannung verurteilt werde. Jeder Verstoß dagegen werde automatisch mit 20
Jahren Zwangsarbeit bestraft. Ich blieb dort fast vier Jahre, bis 1954. Als der
Schnurbärtige verreckt war, hat es eine Amnestie gegeben. Diese betraf
diejenigen, die zu fünf Jahren Haft verurteilt waren, also auch mich. So kam
ich frei. Erst 1956, als ich in Klinzy wohnte, wurde ich rehabilitiert. Man
teilte mir mit, dass der Untersuchungsführer so und so, der für meinen Fall
verantwortlich war, erschossen worden war. Ja, rehabilitiert wurde ich erst
1956.
Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL - Moskau)
Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)
Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL - Berlin)
Jörg Sander (Sander Websites – Berlin)
Übersetzung/Untertitelung:
Boris
Kazanskiy (MEMORIAL - Bonn)
© MEMORIAL International 2011
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