Wladimir Kristapowitsch Kantowski, Jahrgang 1923,
verbüßte zwei Haftstrafen.
Während des zweiten Weltkrieges kämpfte er in einer
Strafkompanie.
Er ist von Beruf Maschinenbauingenieur.
Drehbuch zum Video: Wladimir Kantowski erinnert sich - Das Schicksal eines glücklichen Menschen.
Kindheit
Ich fange mal mit meinen Eltern an. Mein Vater stammte
aus einer armen lettischen Bauernfamilie. In seiner Kindheit war er Hirte, dann
arbeitete er in einer Fabrik, seit dem 12. Lebensjahr war er schon Mitglied der
Partei der Bolschewiken und nahm an der Revolution teil;
1938 wurde er
verhaftet. Ich war 15 Jahre alt und ich glaube, dass mit dem 21. August 1938
mein Erwachsenenleben begann. Mein Vater wurde verhaftet und drei Monate
danach, im November, kurz vor den Feiertagen, wurde bei einer Arrestwelle meine
Mutter festgenommen. Es war ebenfalls 1938 Ich ging zur Schule. Ich las sehr
viel über Geschichte, Wirtschaft und Philosophie. In diesen letzten Schuljahren
habe ich wohl mehr gelesen, als in meinem restlichen Leben. Meine Freunde waren
ebenfalls ziemlich bewandert. Wenn wir zusammen über die politische Situation
sprachen, konnten wir uns nur nicht über die Fachausdrücke einigen, ob das nun
einfach nur Bonapartismus oder schon Faschismus sei. Dabei waren wir keineswegs
alle Kinder von Repressierten.
Der
wunderbare Schullehrer
In der achten Klasse bekamen wir einen wunderbaren
Geschichtslehrer, sein Name war Pawel Arturowitsch Dukowskij. Wir hatten auch
sonst gute Lehrer, aber dieser forderte so besonders klar und deutlich, dass
man nicht auswendig lernen, sondern Sachen verstehen sollte. Das hat einen
Bewusstseinswandel bei vielen Schülern ausgelöst. Vielen fiel das schwer, wie
es immer so ist. Andere kamen damit gut klar. Er ließ uns nachdenken, was
Geschichte ist, Ereignisse nicht einfach nur zu beschreiben, sondern sie genau
zu analysieren.
Plötzlich lasen wir in der Lehrerzeitung, dass Pawel
Arturowitsch im Januar bei der ordentlichen Lehrerbesprechung grundlos
verleumdet wurde. Wir haben uns darüber empört und gingen zur Lehrerzeitung, in
das Zentralkomitee des Kommunistischen Jugendverbandes, in das Bezirkskomitee
der Partei und schlugen uns bis zu den höchsten Verantwortlichen durch. Und
tatsächlich hatte das Bezirkskomitee der Partei irgendeine Kommission eingesetzt,
die seine Arbeit hoch bewertet hat. Das war im März 1941 und am 16. März 1941
wurde er verhaftet. Das war natürlich ein großer Schlag, ein Schock.
Als Antwort darauf haben Elena Sobol, Anetschka
Bowscherer und ich zunächst unabhängig voneinander, dann zusammen so etwas wie
Flugblätter gemacht. Wieviele? Das waren nur ein-zwei Zetteln, gedruckt auf
Zigarettenpapier. Wir legten sie in Umschläge und schickten sie an unsere
Mitschüler ab. Wir beendeten die Schule und und dann kam der Krieg. Fast zeitgleich
mit dem Kriegsanfang wurden wir alle verhaftet.
Arrest
Zehn Jahre, ich bekam zehn Jahre Lagerarbeiten, Anetschka
kriegte auch zehn. Nur ich wusste, dass Lena Sobol in die Sache verwickelt war.
Sie war noch minderjährig, vielleicht bekam sie deswegen nur fünf Jahre auf
Bewährung. Das qualvollste damals war der vollständige Informationsmangel. Die
Isolation war so stark, dass wir zwar wussten, dass der Krieg angefangen hatte,
aber ob unsere Soldaten in Berlin sind oder die Deutschen in Moskau, das haben
wir nicht verstanden. Ich bin in drei Lagern gewesen und jedes war auf seine
Art schrecklich.
Fangen wir mit dem ersten, mit dem Lager in Omsk, an. Es
war in erster Linie schrecklich wegen der Zeit, zu der ich dort war. Es ist
bekannt, dass im Jahre 1942 die meisten Menschen in den Lagern umkamen. Der
Winter 1941-1942 vernichtete die Menschen erbarmungslos. Die Leute starben vor
Hunger, Kälte und schwerster körperliche Arbeit. Das betraf insbesondere unsere
Moskauer Gruppe. Wir mussten nackt und hungrig in Kammern von 70 Menschen
bewegungslos in der Hitze verharren. Das Schreckliche am Lager ist der
massenhafte Tod von, in Lagersprache ausgedrückt, “Muselmännern”, medizinisch:
der Dystrophie- und Pellagrakranken, die einem auf Schritt und Tritt begegneten.
Dieses Lager war für mich eine Lehre aus dreierlei
Hinsicht. Erstens lernte ich, dass fürs Essen nichts zu schade ist. Gib deine
ganze Moskauer Kleidung und sonst alles weg, um ein zusätzliches Stück Brot zu
bekommen, wenn du Hunger hast. Das ist eine elementare Lehre.
Die zweite Lehre bestand darin, dass man sich mutig an
jede Art von Arbeit herantrauen soll, sogar wenn man sie noch nicht so gut
beherrscht. Formell war ich dort nämlich als Ökonom oder Planer beschäftigt,
ich weiß nicht wie das genau hieß, von diesem Beruf hatte ich vorher keine
Vorstellung.
Und schließlich die dritte, vielleicht wichtigste Lehre:
wenn du etwas erreichen willst, dann nutze jedes Stück Papier, um immer wieder
und konsequent Gesuche zu schreiben, je mehr, desto besser sind deine Chancen
auf Erfolg.
Krieg
Ich habe Dutzende solcher Gesuche eingereicht. Man
schrieb das Jahr 1942. Man begann damit, nationale Militäreinheiten zu bilden.
Ich bin allen Ausweisen nach Lette. Die lettische Gardedivision gab es schon.
Nur wo sollte man die Letten hernehmen? Deswegen suchte man auch in den Lagern.
Ich denke, dass ich damit sehr großes Glück hatte. Meine zehn Jahre Haft wurden
durch fünf Jahre mit der Entsendung zur Front ersetzt.
Die Schlacht von Stalingrad war gerade zu Ende und die
deutsche 16. Armee war bei Demjansk eingekesselt, ihre Versorgung erfolgte über
ein sieben oder acht Kilometer breites Gebiet, nahe des Dorfes Sorokino. Ich
bin natürlich kein Militärstratege, aber soweit ich weiß, mussten wir als Strafkompanie
die feindlichen Feuerpunkte ausfindig machen, das bedeutet, den Gegner
möglichst viel auf uns schießen zu lassen. Um diese Aufgabe zu erfüllen, sind
wir abends losgelaufen und marschierten die ganze Nacht durch.
Da haben wir uns an einem Ort versammelt und man befahl
uns: “Vorwärts!” Wir gingen vorwärts und der Feind schoss uns alle aus dem
Maschinengewehr nieder, damit wir auf der Anhöhe nicht zu weit vordringen. Wir
krochen etwas nach vorne, dann flogen Minen auf uns.
Im Lazarettzug habe ich erfahren, dass aus unserer
Formation nur sieben Personen überlebt haben. Da kam irgendein General oder
Oberst und hängte diesen sieben Medaillen an. Ich war damals verwundet, mein
Arm ist immer noch schief. Hier war natürlich alles zersplittert. Ich denke, dass
ich damals wieder ziemliches Glück gehabt habe. Eine schwere Verwundung am
linken Arm ist doch recht harmlos. Was kam danach? Dann kamen viele
Krankenhausaufenthalte.
Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte ich
den mittleren Behinderungsgrad. 1945 habe ich geheiratet und fuhr mit der
jungen Ehefrau zum Lager meines Vaters, ins Wjatlag. Auf dem Rückweg, schon als
ich vom Bahnhof abgeholt wurde, haben mir Leute gesagt: “Man suchte nach dir”.
Sie trafen mich vor meinem Haus an, ich schaffte es gar nicht hoch zu
Erneuter
Arrest
September 1945. Es stellte sich heraus, dass zu dieser
Zeit allmählich meine frühen Mithäftlinge wieder festgenommen wurden, auch
diejenigen, die ein Jahr älter als ich waren und 1941 beim Militär waren.
Als Teil unseres nuklearen Schutzschildes wurde am Weißen
Meer ein Werk zum Bau von U-Booten errichtet. Beim Werk entstand eine kleine
Stadt, die später Sewerodwinsk benannt wurde. Leider kam ich dort in die
Behinderten-Abteilung. Das war natürlich schrecklich, denn ich war nüchtern
genug, um zu verstehen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, ob ich dort nun
sechs oder sechzehn Monate durchhalte. Mit allen Kräften versuchte ich dort weg
zu kommen und hatte wieder mal Glück. Ich schrieb Gesuche dieser Art: “Wie können
Sie mich als technischen Fachmann von der Arbeit abhalten, wenn ich doch ein
Städtchen für das Land bauen könnte.” Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich
dort weg musste. Und ich hatte wieder Glück und wurde in die
Maschinenwerkstatt, in die Abteilung der Hydromechanisierung geschickt.
Die Arbeitsbrigade in der Maschinenwerkstatt war der Hort
der Leningrader Maschinenbauer, sie hatten alle zehn Jahre nach dem Artikel 58
gekriegt. Das waren dreißig- bis vierzigjährige Männer und tolle Spezialisten.
I.O.: Ging es Ihrem Arm schon besser oder hatten Sie eine
Bandage?
W.K.: Nein, ich musste den Arm in der Binde tragen. Und
fast jeden Monat ist er angeschwollen und ich hatte Fieber. Der Arm war
natürlich eine Qual, weil ich mich nicht an die Ärzte wenden konnte. Hätte ich
das gemacht, würde man mich in ein Lazarett stecken und von dort sonstwohin.
I.O.: Man hätte Sie wieder in ein Behindertenlager
schicken können.
W.K.: Genau. Wer war also mein Chirurg? Ich selbst musste
an mir rumsezieren. Der Arm schwoll an. Ich hatte aber keine andere Wahl. Die
Messer waren gut geschärft, in der Elekroabteilung im Werk gab es immer
irgendeinen Ersatz für Alkohol. Damit habe ich die Wunde immer wieder
desinfiziert und saubergemacht.
Im September 1951 war meine Haftzeit zu Ende. Zu meiner
Entlassung kam ich für eine bis zwei Wochen nach Inta, von dort wurde ich nach
Syktywkar, zum Innenministerium der Autonomen Sowjetrepublik Komi gebracht.
Dort musste ich etwas Randale machen, weil man mich in die Verbannung irgendwo
in den Wald schicken wollte. Und was soll ich im Wald mit diesem Arm, nur vor
Hunger sterben, denn die Ration ist ja klein. Ich erreichte, dass man mich nach
Workuta schickte, dort gab es zumindest eine Arbeitsstelle.
Die Verbannung ist kein Lager. Genauso wie ein Lager kein
Gefängnis und eine Massenzelle kein Karzer ist. Das sind alles bestimmte
Etappen auf dem Weg zur Freiheit. Welche Etappe das Leben in der UdSSR war,
weiß ich nicht, aber es ist sicher auch eine Etappe.
Ich habe insgesamt Glück im Leben. Schauen Sie: Meine
Mutter war ein Monat lang inhaftiert und kam dann frei. Mein Vater kriegte nur
drei Jahre in der Stalinzeit, ich bekam zehn und kam nach anderthalb Jahren zum
Militär. So ein Glück kommt selten vor.
Drehbuch:
Aljona Koslowa, Irina Ostrowskaja (MEMORIAL - Moskau)
Kamera:
Andrej Kupawski (Moskau)
Schnitt:
Sebastian Priess (MEMORIAL - Berlin); Jörg Sander (Sander Websites –
Berlin)
Übersetzung/Untertitelung:
Boris Kazanskiy (MEMORIAL - Bonn)
© MEMORIAL International 2011
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